Vision und Lebensberufung



Es gehört zur Aufgabe jedes Menschen, den eigenen Lebensentwurf auszubilden und im Verlauf des Lebens zu verwirklichen. Viele haben eine Vision, durch die sie glauben, allein glücklich werden zu können.

Zum Erwachsensein gehört, dass man realisiert: Es sind viele kleine Schritte, die auf dem Weg zur Verwirklichung des persönlichen Lebensentwurfs zu gehen sind. Man braucht einen langen Atem, um seine Vision im Alltag umzusetzen. Und vor allem: Der eigene Lebenstraum muss immer wieder aufs Neue anhand der äußeren Gegebenheiten und der eigenen Möglichkeiten korrigiert werden. Erst die Spannung zwischen Vision und Alltag lässt das Leben lebendig werden

Die Berufung entdecken

Zum Wahrnehmen der Gegebenheiten und Möglichkeiten muss die Bereitschaft treten, das Wahrgenommene in die Praxis umzusetzen. Nur wer bereit ist, Geld, Zeit, Kraft und Phantasie zu investieren, wird seine Vision verwirklichen und im Leben Freude und Erfüllung finden.
Für Christen geht es darüber hinaus darum, dass sie in und mit ihrer Vision vom Leben die Berufung GOTTES entdecken. Dabei gilt: JESUS CHRISTUS möchte keine unmündigen Kinder, auch keine Duckmäuser und Skrupelanten als Nachfolgerinnen und Nachfolger haben. Er will, dass wir zu seinen Söhnen und Töchtern heranreifen, zu verantwortlichen Partnerinnen und Partnern werden. Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn aus Lukas 15 ist dafür ein hervorragendes Beispiel: Der jüngere, bisher „verlorene“ Sohn wird vom Vater unmittelbar nach seiner Heimkehr ohne alle Vorleistungen in alle Sohnesrechte wiedereingesetzt und erhält vom Vater die Prokura.

Krankmachende Leitbilder

Vor allem sind es zwei Dinge, die Christen hindern, ihre Berufung zu leben: krankmachende Leitbilder und die fehlende Bereitschaft, den eigenen Lebensentwurf für GOTT aufzugeben. Wir sollten uns klarmachen: Bilder sind immer stärker als Bewusstseinsentschlüsse und gute Vorsätze. Leitbilder – Visionen vom Leben – enthalten enorme Kräfte. Unser Geist und unsere Phantasie werden davon beflügelt und befeuert – im positiven wie im negativen Sinne. Dem Leitbild und seiner Erfüllung zuliebe sind Menschen bereit und fähig, die größten Opfer zu bringen. Je nachdem, welche Leitbilder jemand in seiner Kindheit und Jugend empfangen hat, können sie zerstörerische oder inspirierende Kraft entfalten.
Negative Einreden der Eltern prägen die Identität von Heranwachsenden häufig bis ins Alter. Manche Mütter signalisieren ihren Söhnen von früher Kindheit an: „Du bist ein Versager.“ Entsprechend schwach ausgeprägt ist dann deren Selbstwertgefühl. Nach meiner Beobachtung ist bis in die jüngste Vergangenheit auch in der christlichen Gemeinde vielen Kindern und Jugendlichen der Zuspruch ihres Wertes und ihrer Würde vorenthalten worden.
Glücklicherweise ist es möglich, krankmachende Leitbilder der Seele zu korrigieren. Oft geht das nur mithilfe eines erfahrenen Gesprächspartners, einer Seelsorgerin oder eines Therapeuten. Ein erster Schritt besteht darin, sich die negativen Leitbilder bewusst zu machen. In einem nächsten Schritt sind die mit den Leitbildern verbundenen Allmachtsphantasien und Minderwertigkeitskomplexe durch eine realistischere Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu ersetzen. Ein weiterer Schritt auf dem Weg, in die eigene Berufung hineinzuwachsen, besteht darin, zur Wirklichkeit, wie sie ist, ja sagen zu lernen.

Dem Ruf GOTTES folgen

Der zweite Hinderungsgrund, entsprechend der Berufung GOTTES zu leben, liegt in der fehlenden Bereitschaft, auf die Verwirklichung des eigenen Lebensentwurfes zugunsten des Rufes GOTTES zu verzichten. Wer sein Leben GOTT anvertraut, wird nicht unglücklich werden, wenn er andere berufliche Wege geführt wird als die, die er als Leitbilder der Seele in sich trägt.
Das eigene Leben zum Dienst für GOTT zur Verfügung zu stellen, muss keine Lebensbeschränkung sein, sondern birgt im Gegenteil die Chance, ein intensiveres Leben zu führen. Größere Intensität heißt allerdings automatisch größeres Wagnis. Die mit jedem Wagnis verbundene Spannung ist die unerlässliche Voraussetzung für ein intensives Leben. No risk, no fun!

Mein HERR und mein GOTT,
nimm alles von mir,
was mich hindert zu DIR.
Mein HERR und mein GOTT,
gib alles mir,
was mich fördert zu DIR.
Mein HERR und mein GOTT,
nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen DIR.
Nikolaus von der Flüe, 1417–1487

Dr. Peter Zimmerling
Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig.
Er war langjähriges Vorstandsmitglied im el shalom-Trägerverein.